Nur wenige lebende Organismen liefern uns so viele wertvolle Informationen über eine urferne planetarische Zeit, deren Zeuge sie waren, wie die Wasserpflanzen, insbesondere die Algen. Umso überraschender ist es, dass diese einzelligen bzw. mehrzelligen Organismen, welche die Entstehung des Lebens auf der Erde entscheidend beeinflussten, bisher in der Homöopathie kaum Beachtung fanden.
Alle unsere Landpflanzen, die später auf der Erdoberfläche erschienen, stammen sehr wahrscheinlich von diesen Ur- Wasserpflanzen ab. Viele Arten kamen und starben wieder aus. Verschwand nach einer gewissen Zeit ihre ökologische Nische? War eine Anpassung an ein sich ständig verwandelndes Milieu nicht möglich? Waren ihre spezifischen Fähigkeiten irgendwann nicht mehr gefragt? Fragen, die noch unbeantwortet sind und die vielleicht lange noch unbeantwortet bleiben werden ...
Einzelne Vertreter aus dem pflanzlichen und tierischen Reich konnten jedoch diesen Entstehungs- und Absterbenszyklus überdauern. Über Jahrtausende hinweg haben sie sich trotz, oder gerade aufgrund von planetarischen Veränderungen und klimatischen Widrigkeiten durchgesetzt. Dies mag an ihrer besonderen Flexibilität liegen, oder auch an ihrer grundlegenden Fähigkeit, alle auftauchenden Veränderungen durchzuhalten. Gerade die Kombination aus beidem macht diese Gruppe so besonders.
In der Tierwelt sind es u. a. die Krokodile, die Schildkröten sowie einzelne Insekten, die diese beiden Eigenschaften vereinen. Bei den Pflanzen sind es die Algen, insbesondere die Grünalgen. Was sie charakterisiert, ist auf der einen Seite ihr Pioniercharakter, ihre Bereitschaft, neue Lebensräume zu erschließen, auf der anderen Seite die Bewahrung der alten Formen. Die Characeen, eine besondere Gruppe der Grünalgen, haben Samenkapseln, Oosporen, die durch Kalkinkrustierung sehr hart werden und sich bei Versteinerung erhalten. Solche Gebilde finden sich in Gesteinsschichten, die mindestens 450 Millionen Jahre alt sind! Das bedeutet, dass das Wesen dieser Pflanzen seit dieser Zeit das Leben auf unserem Planeten prägt. In zahlreichen Gewässern bevölkern die Characeen die tiefen Wasserschichten, beruhigen die Wasserströme, reinigen das Wasser, bieten Lebensräume für andere Wasserbewohner. Sie bilden ganze Wälder von starren, verkalkten Gestalten. Sie werden wie Urwaldriesen bewachsen, verkalken an den alten Trieben und erneuern sich aus einzelnen Sprossstücken ... ein nie endender Kreislauf.
Vielleicht verstehen Sie jetzt, liebe Leser, warum das Thema der Algen, insbesondere der Characeen und unter ihnen die Chara intermedia, uns in ihren Bann zog und nicht mehr losließ.
Die Idee, die Alge Chara intermedia nicht nur auf der pflanzlichen, sondern auch auf der medizinischen, insbesondere homöopathischen, Ebene zu erforschen und zu prüfen, entstand im Jahr 2000, als Michael Bögle an der TU München, in der limnologischen Station Iffeldorf, seine Diplom-, und später seine Doktorarbeit über diese Wasserpflanze verfasste. Er gab mir die Möglichkeit, an seinen Forschungsergebnissen teilzuhaben. So suchten, entnahmen und bestimmten wir diese Alge aus zahlreichen Gewässern in Europa, vor allem jedoch aus den bayrischen Flüssen und Seen. Uns faszinierte die Tatsache, dass dort, wo andere Algen Gewässer verschmutzen, die Chara intermedia imstande war, das Wasser kristallklar zu säubern. Je länger wir sie beobachteten, desto größer wurde unser Respekt dieser Urpflanze gegenüber. Wir hatten es also mit einer ursprünglichen Wasserpflanze zu tun, die weltweit zu finden ist. Wir fragten uns, ob die speziellen Eigenschaften die die Limnologen wissenschaftlich nachgewiesen haben, in pflanzlichen oder homöopathischen Arzneimitteln, die aus dieser Alge hergestellt sind, sichtbar werden.
Ich nahm mir sieben Jahre Beobachtungszeit, um die Chara intermedia auf mich wirken zu lassen.
2007 und 2008 sprach ich mit der Homöopathin Anne Schadde, bekannt für ihre homöopathischen Mittelprüfungen, und dem Apotheker Walter Schmitt, der sofort von der Notwendigkeit überzeugt war, eine Alge homöopathisch zu verreiben. Im Vergleich zu den vielen Substanzen aus dem Wasser, wie Tiere und Mineralien, gibt es seltsamerweise kaum homöopathische Mittel aus Algen. Und das, obwohl evolutionsgemäß die Algen am Anfang allen Lebens stehen und aus dem Wasser kommen.
So beschlossen wir, aus der Chara intermedia ein homöopathisches Medikament herzustellen. Kurz zuvor kam Norbert Groeger, ebenfalls Homöopath, zu unserem Projekt hinzu, und es stellte sich heraus, dass er ein ganz besonderes Gespür für das Wesen dieser Pflanze hatte.
Wir wurden zu einem sehr gut funktionierenden, uns ergänzenden Team. Da die Mittelverreibung genau so beeindruckend war wie die sieben Jahre Beobachtungszeit, beschlossen wir 2009, die Chara intermedia homöopathisch tiefer zu studieren. Die Prüfer und Supervisoren konnten sich ausnahmslos sehr gut beobachten und reflektieren. Sie zeichneten hoch motiviert ihre Befindlichkeiten, während der dreimonatigen Beobachtungszeit, auf.
Nach Beendigung der Homöopathischen Arzneimittel-Selbsterfahrung (HAMSE), entdeckten wir die Arbeiten von Dr. Hans-Christoph Vahle, Vegetationskunde-Dozent an der Universität Witten. Er hatte nicht nur zahlreiche Publikationen über die Characeen veröffentlicht, sondern beschäftigte sich auch intensiv mit deren Wirkungen in der Landschaft und in der Landwirtschaft. Mit seinem anthroposophischen und goetheanischen Ansatz vertiefte er unser Verständnis der Wasserpflanzen-Welt und erweiterte unsere Erforschung des ungeahnten Heilpotenzials, das wir in der Chara intermedia sahen.
Somit kam, wie so oft im Leben, alles zur richtigen Zeit. Die ganze Auswertung war wie ein spannender Krimi, und die Patienten, denen die homöopathische Arznei bei der Heilung bzw. Linderung ihrer Symptome half, bestätigten unsere Ergebnisse.
Und jetzt möchten wir Sie mitnehmen, liebe Leser, auf eine Reise unter Wasser, eine Reise zu den Anfängen allen Lebens, in die Tiefen unserer Seen und in die Tiefe unserer Seele ...
Heidi Brand
Planegg, Januar 2012